Kommissar Clemens Wallner von der Kripo Miesbach und Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner, liebevoll "Leichen-Leo" genannt, bekommen alle Hände voll zu tun, als ausgerechnet der Schafkopf-Held Johann Lintinger durch eine Schrottschere seiner rechten Hand beraubt wird. Ein würdiges Begräbnis muss her für diese legendäre Rechte, beschließt Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner, und so wird gleich neben einer alten Kapelle, die hinter dem Garten der Mangfall-Mühle steht, ein Grab ausgehoben. Dabei macht »Leichen-Leo« seinem Spitznamen mal wieder alle Ehre, denn der Ruheplatz ist bereits belegt: von einer männlichen Leiche.
DNA-Untersuchungen ergeben, dass es sich um den seit einem Jahr vermissten Vermögensberater Daniel Ulrich, ansässig in Frankfurt, handelt. Er soll in Miesbach einen Wagen gestohlen haben. Doch warum? Und wo sind seine Frau und sein Sohn? Schnell haben Kommissar Wallner und die Kripo Miesbach mehr Fragen als Antworten und eine bemerkenswerte Spurensuche im vermeintlich idyllischen Oberbayern nimmt ihren Lauf.
Prolog
Berlin, Mai 2010
Sie standen vor dem Club und rauchten und redeten mit den Jungs, die sie kennengelernt hatten. Daniel war schon älter, vielleicht fünfundzwanzig. Seine Augen waren blau, die Haare rotblond, die Wimpern waren hell. Er strahlte eine Selbstsicherheit aus, die aus der Tiefe kam, so schien es Sena jedenfalls. Jemand, der weiß, was er wert ist im täglichen Kampf ums Überleben. Er berührte sie, zog sie an sich, nahm ihre Hand und bewahrte dabei immer das Spielerische, sandte eine klare Absicht in ihre Richtung, die dennoch angenehm unverbindlich war. Sena war ein bisschen verliebt. Julias Junge war nicht so alt, nicht mehr achtzehn wie die Mädchen, aber jünger als Daniel. Vielleicht wirkte er auch nur unreifer. Senas Hand lag in der von Daniel, sie lehnte sich an seine Schulter und sah zum Himmel. Die Nacht über Berlin war ungewöhnlich klar. Sie konnte den Kleinen Wagen sehen. In Nächten wie dieser hatte sie mit ihrem Vater auf dem Balkon gestanden, er hatte auf die Sterne gedeutet und sie gelehrt, den Polarstern zu finden. Vor sechs Monaten war der Vater gestorben. Sie hatte eine halbe Flasche seines Rasierwassers behalten, um daran zu riechen, wenn sie sich nach ihm sehnte. Wie jetzt.
»Was glotzen die Typen so?«, sagte Julia.
Es riss Sena aus ihrer Melancholie.
In der Hofeinfahrt des Industriegeländes, in dem sich der Club befand, standen zwei Männer. Der eine mit Schnauzbart um die fünfzig, der andere ohne Bart in den Zwanzigern. Sie starrten feindselig in Richtung der jungen Leute, rührten sich aber nicht von der Stelle. Sena wusste: Die Blicke galten ihr. Sie ließ Daniels Hand los.
»Entschuldigt mich kurz.«
Onkel Adal war wieder da. Extra aus Ankara angereist. Auch den jüngeren Mann neben ihm kannte Sena: Emre. Der Mann, den sie heiraten sollte. Sena und Emre waren an unterschiedlichen Orten in Deutschland aufgewachsen. Aber ihre Familien kamen aus demselben Dorf an der Nordküste der Türkei. Zwei Monate nach Timurs Tod hatte Adal Emres Vater im Heimatdorf getroffen. Sie hatten getrunken und des Toten gedacht und überlegt, was man für die Familie tun könne. Und da hatte Adal die Idee gehabt, von der er nicht verstehen konnte, warum sie seinem verstorbenen Bruder nie in den Sinn gekommen war. Oder vielleicht war sie das, aber dann hatte er sie niemandem mitgeteilt: nämlich, dass Sena und Emre das ideale Paar abgeben würden. Was für ein wunderbarer Gedanke, die lange Freundschaft, die die Familien verband, durch eine Hochzeit zu krönen. Senas Mutter, der ihr Mann zwar ein wenig Geld, aber eine nur geringe Rente hinterlassen hatte, müsste nicht mehr für die Tochter aufkommen. Und Sena wäre in einem sicheren Hafen und würde in eine lange befreundete Familie einheiraten. Was konnte man sich als junge Frau mehr wünschen? Die beiden Männer waren sehr angetan von ihrem klugen Beschluss, tranken noch einen Raki und gaben sich die Hand darauf.
»Hi, Emre«, sagte Sena auf Deutsch und dann auf Türkisch: »Was willst du, Onkel Adal? Ich habe dir gesagt, dass ich nicht heirate.« Und zu Emre: »Ist nichts Persönliches.«
»Was spricht dagegen?« Adal sah seine Nichte verständnislos an. »Du könntest sogar in Deutschland bleiben.«
»Ich bin achtzehn. Niemand schreibt mir vor, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich bin volljährig. Und das wäre ich übrigens auch in der Türkei.«
»Und du glaubst, deswegen bist du auch klüger als alle anderen? Ist das so? Klüger als zwei erfahrene Männer von fast fünfzig Jahren. Zwei Männer, die lange und sehr gründlich überlegt haben, was das Beste für alle Beteiligten ist. Aber nein, du weißt das alles besser. Weil, du bist ja schon achtzehn.« Er schlug Emre mit dem Handrücken auf den Oberarm. »Sag halt auch mal was.«
»Na ja …«, begann Emre etwas zögerlich auf Deutsch, »… du bringst Adal und meinen Vater in eine ziemlich blöde Lage.«
»Könntest du vielleicht türkisch reden?«, unterbrach ihn Adal. »Oder soll ich nicht mitbekommen, was ihr sprecht?«
»Ist ja gut. Ich hab gesagt, dass Sena uns alle in eine dumme Lage bringt.« Emre wandte sich wieder an Sena, diesmal auf Türkisch. »Mein Vater und Adal haben sich das gut überlegt. Und … ich meine, wir kennen uns seit dem Kindergarten. Ich mag dich und – na ja«, ganz kurz verfiel er ins Deutsche, »… hast du darüber nachgedacht, was ich dir angeboten habe?«
»Hab ich.« Adals Gesichtsausdruck zwang Sena wieder ins Türkische zurück. »Ich will nicht heiraten, okay?«
»Mehr als anbieten kann ich’s dir nicht.« Emre versuchte zu lächeln. »Aber dir ist klar, was du anrichtest? Das gibt ziemlichen Stress. Die zwei …«, er deutete auf Adal, »… haben schon alles besprochen. Aber die Entscheidung liegt natürlich bei dir.«
»Was redest du da!« Adal schob Emre ein Stück zur Seite, um sich direkt vor Sena aufzubauen. »Hör zu: Ich habe deinem Vater versprochen, dass ich mich um seine Familie kümmere, wenn er zuerst stirbt. Und das tue ich. Ich habe alles so arrangiert, dass es für jeden das Beste ist, und ich habe es mir nicht einfach gemacht. Und du? Hör ich: ›Danke, Adal‹? ›Danke, dass du das alles für mich und meine Mutter getan hast‹? Nein, nichts. Keinen Dank. Stattdessen willst du, dass ich mein Wort breche.« Er wurde lauter. »Was ist gegen Emre zu sagen? Was? Ist er so schlimm? Musst du deswegen die Freundschaft von zwei Familien zerstören?« Adal hatte sich in Rage geredet. Er ging bebend vor Wut auf Sena zu und fasste ihren Arm. »Ich lass mich doch von einem kleinen Mädchen nicht lächerlich machen. Du kommst jetzt mit!«
Adal zog Sena am Arm mit sich fort, rot im Gesicht und schwitzend. Sena wehrte sich, aber gegen den kräftigen Mann hatte sie keine Chance. Plötzlich blieb Adal stehen. Sena sah zuerst nur, dass ihn jemand am Kragen gepackt und nach hinten gezogen hatte. Es war Daniel.
»Was ist hier los?«, fragte er.
»Schon okay«, sagte Sena.Aber für Adal war es nicht okay. Er versuchte sich aus Daniels Griff zu winden. Als das nicht gelang, schlug er ungelenk um sich.»He, spinnst du?«, sagte Daniel, drehte Adal den Arm auf den Rücken und trat ihm in die Kniekehle. Senas Onkel sackte zu Boden, ein weiterer Tritt in den Rücken beförderte ihn mit beiden Händen vornüber in eine schwarze Pfütze.
Sena wollte Daniel beruhigen, sandte aber vorher einen Blick zu Emre und erschrak. »Vorsicht!«, rief sie Daniel zu.
Emre hatte ein Springmesser in der Hand, die Spitze wies in Daniels Richtung, und er funkelte Daniel wütend an.
Daniel ging einen Schritt auf Emre zu. »Was wird das?
«Emre schwieg. Währenddessen erhob sich Adal leise fluchend aus der Pfütze. Daniel schickte ihn mit einem Tritt gegen die Schulter wieder zu Boden.
»Lass den Mann in Ruhe!«, schrie Emre ihn an. »Und verpiss dich!«
Ohne zu überlegen, so hatte es den Anschein, fasste Daniel nach der Hand mit dem Messer, verdrehte den Arm, das Messer fiel zu Boden, und Daniels Ellbogen zuckte in Emres Gesicht. Emre taumelte, stolperte über seinen eigenen Fuß und kam neben Adal auf dem Asphalt zu liegen. Das alles geschah innerhalb einer Sekunde.
Daniel ging einen Schritt auf die beiden zu, und es hatte den Anschein, als würde jetzt eine wüste Schlägerei losbrechen. Aber Sena trat ihm in den Weg.
»Lass es gut sein. Ich hab keinen Bock, dass noch jemand verletzt wird.«
Sie zog Daniel weg in Richtung Club. Als sie in sicherer Entfernung waren, drehte sich Sena noch einmal um. Adal wischte sich den Schmutz von der Hose. Emre hob das Messer auf, und dann richtete er seinen Blick auf Sena. Mit offenem Mund starrte er sie an. Wie eingefroren mit dem Messer in der Hand. Sena verkrampfte sich der Magen.
»Lass uns reingehen«, sagte sie.
»Föhr hat ein Händchen für die Mischung zwischen Humor und Spannung, ein gutes Timing und jede Menge Erfahrung, wie man einen Stoff, eine Stimmung griffig macht.«